Der Mental Health Day am 10. Oktober macht alljährlich auf ein wichtiges Thema aufmerksam: unsere psychische Gesundheit. Gerade im Zuge der Pandemie, deren dramatische Auswirkungen auf die mentale Gesundheit sich Studien zufolge deutlich zeigt , stellt sich die Frage: Was bleibt vom Mental Health Day?
Stellen Sie sich vor, Sie haben sich den Knöchel verstaucht oder können sich vor Schmerzen im Rücken in keine Richtung mehr bewegen – was tun Sie? Weit verbreitet und vielleicht gehören auch Sie dazu, folgt auf diese Umstände der Besuch beim Arzt.
Jetzt stellen Sie sich vor, dass Ihr Schlaf über Wochen hinweg schlecht ist. Sie fühlen sich ohne greifbaren Grund erschöpft, können sich nur schwer konzentrieren oder fühlen sich ausgelaugt, auch nachdem Sie sich ausreichend Ruhe gegönnt haben (meist am Wochenende). Stellen Sie sich weiter vor, dass all diese Symptome gemeinsam auftreten und Ihren Alltag spürbar beeinträchtigt. Was würden Sie jetzt tun?
Bereits seit 1992 gibt es Aktionen, um auf die Bedeutung der psychischen Gesundheit aufmerksam zu machen. Seit 2020 steht der 10. Oktober, Welttag für psychische Gesundheit, jährlich unter einem anderen Themenschwerpunkt. In diesem Jahr lautet das Motto “Mental health care for all: let's make it a reality” (Mentale Gesundheitsvorsorge für alle: Machen wir sie zur Realität).
Wer kennt es heutzutage noch nicht – das Lied der Leistungsgesellschaft? Gleichzeitig ist heute auch immer noch die Zeit in der Zielvorgaben Menschen mit Burnout, Depressionen oder Angststörungen hervorbringen. Das nur, weil es auch weiterhin angesehen ist, möglichst viel in kürzester Zeit zu leisten. Aufopferung wird höher honoriert als eine gesunde Life-Work-Balance, obwohl diese nachhaltig zu mehr Wohlbefinden sowie einer stabilen Leistungsfähigkeit führt.
Gesundheit setzen wir immer noch mit Leistungsfähigkeit gleich, Krankheit darf in unserer Leistungsgesellschaft der Arbeitswelt nicht existieren, denn sie schadet dem Umsatz. Was können Unternehmen ändern, um gleichzeitig zielorientiert und trotzdem gesund zu arbeiten?
In Deutschland stiegen mentale Krankheitsfälle im Coronajahr um knapp 17 Prozent. Einen deutlich stärkeren Anstieg verzeichneten unsere Nachbarländer Frankreich, Spanien und Italien einer Studie des Queensland Zentrum für psychische Gesundheitsforschung zufolge. Diese und weitere Studien zum Thema Mental Health schaffen Aufmerksamkeit und das Bewusstsein für die Existenz psychischer Krankheiten bzw. deren Zunahme. Das ist schon ein guter erster Schritt.
Schauen wir uns jedoch den zeitlichen Horizont an, können wir leider nur feststellen, dass die Bedeutung in und für die Arbeitswelt noch sehr am Anfang steht. Oder würden Sie Ihren Kollegen offen erzählen, dass Sie letzte Woche ausgefallen sind, weil Sie überlastet waren, sich nicht mehr konzentrieren konnten und irgendwie alles zu viel war? Ähnlich, wie Sie es vielleicht bei einer Knöchelverletzung oder den Rückenschmerzen offen ansprechen würden?
Einmal ausgesprochen machen viele Betroffene die Erfahrung, dass sie nun einen Stempel tragen. Ob nun daraus eine überfürsorgliche Rücksichtnahme oder eine Ausgrenzung stattfindet, weil sie vermeintlich nicht mehr so leistungsstark sind oder an der Verlässlichkeit ihrer Arbeit gezweifelt wird, führt zum gleichen Endergebnis. Man ist irgendwie nicht mehr Teil der Gruppe. Viele fragen sich, wie gehe ich nun mit einem Mitarbeiter oder einer Kollegin um, die bzw. der auf Grund einer psychischen Belastung für kurze oder in den meisten Fällen sogar längere Zeit ausfällt.
Es geht auch gar nicht darum, Stress zu verteufeln oder ihn ganz aus unserem Leben zu entfernen. Die Natur hat diesen Mechanismus aus gutem Grund beibehalten. Er hilft uns bei der Fokussierung, beim Lernen und Wachsen. Ganz ohne Stress gäbe es letztendlich keine Weiterentwicklung. Gemeint ist hier eine Überlastungssituation, die über einen längeren Zeitraum für Anspannung sorgt und letztendlich zu den Symptomen, die eingangs beschrieben sind.
Warum sind wir also so schlecht im Umgang mit psychischer Gesundheit oder Krankheit? Ist es Angst, Unsicherheit, fehlende Erfahrung oder fehlendes Einfühlungsvermögen und Wissen um die Folgen? Sicherlich ist es eine Mischung aus all dem, weil heute noch zu wenig in Unternehmen offen darüber gesprochen wird, wie es für den oder die Betroffene ist.
Es besteht Gesprächsbedarf mit dem Team:
Wenn wir uns darauf fokussieren, welche Gründe zu unnötigem Stress oder zur Überlastung führen, können wir anschließend diese Umstände bzw. Hindernisse minimieren.
Vielleicht kommt dem einen oder der anderen nun der Gedanken, dass Mitarbeiter selbst für sich die Verantwortung tragen. Das stimmt natürlich und gleichzeitig auch nur zum Teil. Denn Unternehmen können viel dafür tun, dass die richtigen Rahmenbedingungen, eine offene Kultur und Entstigmatisierung von psychischer Gesundheit Einzug hält.
Schon allein, weil jede:r dritte Deutsche rein statistisch in seinem Leben einmal von einer psychischen Erkrankung betroffen sein kann und davon der Großteil als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen tätig sind, liegt die Verantwortung auch im Unternehmen selbst. Unserer Erfahrung aus Kundenprojekten nach, gibt es hilfreiche kleine Schritte die eine Umsetzung erleichtern.
Die Kultur kommt in Bezug auf mentale Gesundheit insbesondere zum Tragen, weil sie die Grundlage dafür bietet, ob in einer Organisation grundlegend über Angst und Kontrolle gemanagt wird oder ein Klima der Offenheit und des Vertrauens vorherrscht:
Nehmen Sie sich beim nächsten größeren Meeting einmal die Zeit nachzufragen: “Auf einer Skala von 0 -10 wie geht es dir?” Das kann anonym erfolgen und trotzdem kann im Nachgang gefragt werden, ob jemand seine Einstufung teilen mag und ob er oder sie ein paar Worte dazu erzählen möchte. Öffnet sich in diesem Moment nur eine einzige Person, legt das meist den Grundstein, dass sich auch andere zu Wort melden. Und gibt es nicht überall den einen Mitarbeiter oder die eine Kollegin, die gerne etwas beiträgt? Um ganz sicher zu gehen, dass diese Frage nicht verhallt, können Sie genau diese Person auch im Vorfeld mit ins Boot holen. So erhalten Sie einen zusätzlichen Multiplikator für Offenheit aus ihrer Mitarbeiterschaft.
Als Führungskraft schwingt eine natürliche Vorbildfunktion mit. Es ist beispielsweise für die eigenen Mitarbeiter:innen wenig nachvollziehbar, dass diese auf eine Life-Work-Balance achten sollten, wenn ihre Führungskraft das nicht auch vorlebt. Gehen Sie mit guten Beispiel voran und seien Sie offen bezüglich Ihres eigenen Wohlbefindens. Gab es nicht auch in Ihrer Welt zuletzt eine Situation, in der Sie nicht weiter wussten oder in der Sie eher einen Spaziergang benötigten statt des nächsten Videocalls? Vielleicht ist Ihnen auch ein Fehler unterlaufen, aus dem Sie für die Zukunft lernen konnten.
Vertrauen und Verbundenheit schaffen Sie als Führungskraft vor allem dadurch, dass Sie auch einmal hinter die Fassade blicken lassen. Die Zunahme an Terminen aus dem Homeoffice und der dadurch entstandene Einblick in das Zuhause gibt Ihnen eine einfache Möglichkeit, mehr zu erfahren. Nutzen Sie diese Möglichkeit. Auch das ist ein Prozess, fangen Sie mit kleinen Schritten an. Vielleicht ein persönlicher Gegenstand auf dem Arbeitstisch, der etwas über das Familienleben oder einfach Ihr Gegenüber erzählt.
Ein Teilaspekt der psychologischen Sicherheit, welche wir als Grundlage für erfolgreiche Teams und Organisationen immer wieder bei unseren Kunden fördern, ist das gegenseitige Kennenlernen. Mit Hilfe einer Vertrauenslandkarte können sich die Teammitglieder besser verstehen und auch über die Distanz gut aufeinander eingehen.
Das Bewusstsein für die Stärken und Entwicklungsfelder jedes und jeder Einzelnen hilft dabei, Absprachen sehr effizient zu halten. Es benötigt keine Rechtfertigungen, wenn jemand in einer Hochphase mit viel Zeitdruck beispielsweise eine Aufgabe eher weitergibt, weil er weiß, dass der Kollege oder die Kollegin diese schneller erledigen kann. Durch eine erhöhte Achtsamkeit werden Dinge einfacher angesprochen.
Das Bewusstsein, die Zeit für alle gut zu nutzen und Dinge nicht unausgesprochen schwelen zu lassen oder auf die lange Bank zu schieben, sorgt somit für ein produktives aber auch offenes Miteinander. Wir geben hierzu dem Team ein “Manual to Me” mit, welches einen Einstieg zum besseren Kennenlernen untereinander ermöglicht. Darin finden sich Aussagen wie:
Was möchten Sie über Ihre Kolleg:innen erfahren? Bleiben Sie interessiert. Nur so kann Vertrauen entstehen. All diese Einzelheiten unterstützen den Erfolg in Ihrem Team. Überlastung oder Unwohlsein wird öfter direkt ausgesprochen und führt nicht zu Ausfällen, da schnell und direkt darauf reagiert werden kann.
Die Arbeit für mehr Bewusstsein im Bereich mentaler Gesundheit beginnt nicht erst, wenn bereits die ersten Kollegen wegen Überlastung ausfallen. Jedes Unternehmen, jede Führungskraft und jede:r Mitarbeiter:in kann bereits im Vorfeld eine Atmosphäre der Offenheit schaffen, in der es okay ist, zu sagen, wenn einem mal alles über den Kopf wächst und man heute nur 60 % und keine vollen 100 % leistet.
Wenn es offen angesprochen werden kann, führt das zu mehr Verständnis im Team. Es kann überhaupt erst Hilfe angeboten oder entgegengenommen werden, wenn Transparenz gelebt wird. Dabei geht es nicht um eine sporadische Handlung einmal im Quartal. Wir dürfen daran arbeiten, dass die Frage “Wie geht es dir heute?” bzw. “Wie bist du heute da?” offen und ehrlich beantwortet werden kann. Ein Ausfall wegen Überlastung darf nicht dazu führen, dass Misstrauen erwächst und man sich gegenseitig nichts mehr zutraut. Und zu den zukünftigen Zielen der Arbeitswelt auch das nachhaltige Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen gehört. Ganz nach dem Motto “Mental health care for all: let's make it a reality”.
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