Der Recruiting Prozess kann einem schnell intransparent erscheinen. So kennt ziemlich jeder das Phänomen des langen Wartens nach Absenden einer Bewerbung. Vom Registrieren, zum Dateneintragen bis hin zur Empfangsbestätigung gleicht vieles einer Onlinebestellung.
Wenn ich als Kundin etwas bestellt habe, werde ich regelmäßig auf dem Laufenden gehalten: Deine Bestellung wird bearbeitet. Heute haben wir dein Paket versandt. Hier kannst du die Lieferung nachverfolgen. Je nach Onlineshop klingen diese Zwischennachrichten seriös oder humorvoll, in jedem Fall kann ich aber jederzeit den Status überprüfen.
Bei Bewerbungen als zukünftige Mitarbeiterin sieht das schon anders aus: nach der automatischen Eingangsbestätigung mit der Aussicht auf “schnellstmögliche Rückmeldung” kommt zunächst eine Weile nichts. Natürlich kann ich erahnen, was hinter den Kulissen vor sich geht, aber wie schnell ist denn “schnellstmöglich”? Gerade dann, wenn in einem Recruiting Prozess verschiedene Instanzen beteiligt sind oder eine umfangreiche Dokumentation wie beispielsweise eine Bewerbenden-Matrix angefertigt werden soll, kann eine erste Rückmeldung schon mal zwei Wochen dauern. Vielleicht gibt es sogar eine Bewerbungsfrist oder Stichtag, ab dem überhaupt erst Bewerbungen gesichtet werden?
In Zeiten mit höherer Arbeitslosigkeit, in denen Unternehmen aus einer Vielzahl von Bewerbenden auswählen konnten, wer für sie arbeiten durfte, war die Sichtweise der zukünftigen Mitarbeitenden auf den Bewerbungsprozess nicht relevant. Inzwischen aber sieht man den Rekrutierungsprozess als eine Bewerbung in beide Richtungen: auch die Unternehmen bewerben sich bei Fachkräften, und damit bekommt auch die Perspektive der Bewerbenden mehr Gewicht. Das oft zitierte Konzept New Work bedeutet auch, so gut wie möglich Augenhöhe und Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden herzustellen, auch im Bewerbungsprozess. Wer sich im Auswahlverfahren nicht genügend wertschätzend behandelt fühlt, sucht sich eben woanders einen Job. Das betrifft nicht nur das Vorstellungsgespräch, bei dem die meisten zum ersten Mal ihre:n neue:n Chef:in kennenlernen, sondern bereits die Schritte zuvor. Aber wie muss der Recruiting Prozess aussehen für eine gelungene Candidate Experience, und worauf kommt es an?
In unserer schnelllebigen Zeit sind wir es gewohnt, möglichst direkt Rückmeldung zu bekommen. Bei Online-Shops geht die Bearbeitung doch auch innerhalb von 2-3 Werktagen, warum muss ich auf ein erstes Ergebnis meiner Bewerbung so lange warten? Wie bereits ausgeführt, gehören zu einem fundierten Bewerbungsprozess verschiedene Schritte. Eigentlich ist es mir auch lieber, wenn der:die Recruiter:in nicht nur innerhalb von 2 Minuten meinen Lebenslauf überfliegt, um mich nach geeignet / vielleicht geeignet / ungeeignet einzusortieren. Hier empfiehlt es sich für das Recruiting-Team den Prozess, möglichst klar zu kommunizieren. Den Recruiting Prozess also transparent zu gestalten. In der automatischen Eingangsbestätigung darf gern sinngemäß stehen, “Wir sammeln die eingehenden Bewerbungen, um sie für einen fairen Vergleich gebündelt bearbeiten zu können”. Auch der Hinweis, dass eine erste Rückmeldung üblicherweise innerhalb von 2 Wochen nach Bewerbungsschluss erfolgt, gibt mir als Bewerberin Orientierung. Schreibt gern dazu, dass ihr euch für jede Bewerbung die Zeit nehmen möchtet, die sie verdient hat, dann bin ich direkt weniger ungeduldig.
Idealerweise bekomme ich direkt mit der Eingangsbestätigung meiner Bewerbung eine Vorstellung davon, welche Schritte euer Auswahlverfahren beinhaltet; dies lässt sich beispielsweise gut mit einer Überblicksgrafik darstellen. Möglicherweise können in der Grafik keine zeitlichen Angaben gemacht werden, weil Bewerbungsverfahren je nach Position unterschiedlich lang dauern, wobei mir auch ungefähre Zeiträume weiterhelfen. Zumindest die Abfolge der einzelnen Schritte sollte aber darstellbar sein. Falls der Recruiting Prozess unvorhergesehen länger dauert: bitte nicht “ghosten”, sondern eine Zwischennachricht schicken.
Natürlich interessiert mich auch, wer wann an welcher Entscheidung beteiligt ist. Oft lassen sich auch automatisch versandte Texte pro Job individualisieren - statt einem wenig greifbaren “Wir werden uns mit Ihnen in Verbindung setzen, mit freundlichen Grüßen, Ihre Personalabteilung” freue ich mich deutlich mehr über die Nachricht “Frau Marinic vom Recruiting-Team und Herr Yildiz aus der Fachabteilung sind schon gespannt auf Ihre Bewerbung”. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, bereits auf der Karriereseite oder in der Stellenanzeige Fotos und Steckbriefe des Recruiting-Teams zu integrieren; je persönlicher und detaillierter das Bild ist, das ich mir machen kann, umso mehr kann ich abschätzen, wie gut ich zum Unternehmen passe. Das Integrieren einer Vorstellung der Recruiter:innen auf der Karriereseite im Recruiting Prozess, zeigt mir jedenfalls, dass jede:r Einzelne wertgeschätzt wird und nicht bloß ein Rädchen im Getriebe ist.
Hurra, da ist die Rückmeldung, dass ich zu einem Termin eingeladen werden soll! Mitunter ist es allerdings immer noch so, dass man von der Personalabteilung einen Termin mitgeteilt bekommt. Genau einen, das ist zwar transparent, aber als Methodik im Recruiting Prozess doch nicht optimal. Was, wenn ich an dem Tag zu der Uhrzeit keine Zeit habe? Termine lediglich mitgeteilt zu bekommen, fühlt sich zudem wenig wertschätzend an. Eine zuvorkommendere und zudem effizientere Weise ist es, wenn der:die Recruiter:in einen Link zu einem Terminbuchungstool schickt, bei dem ich mir einen der verfügbaren Termine aussuchen kann. Die Generationen Y und Z sind entsprechende Terminbuchungen gewöhnt, ich als Gen X liebe es auch zunehmend. Die gute alte, aber dennoch freundliche Alternative: per Telefon einen Termin für’s Kennenlernen ausmachen, den beide Seiten gut einrichten können. Am liebsten habe ich im Anschluss noch eine (automatisierte oder manuelle) Terminbestätigung, in der ich weitere wichtige Infos, vor allem für einen Termin vor Ort, finde: Wie komme ich am besten dorthin, wo muss ich rein, bei wem soll ich mich melden? Aber auch vor einem virtuellen Kennenlernen habe ich Fragen: Mit wem werde ich sprechen? Wie lange wird der Termin ungefähr dauern? Soll ich etwas vorbereiten?
Auch beim Vorstellungsgespräch bzw. Termin zum Kennenlernen gibt es etliche Möglichkeiten, im Recruiting Prozess die Candidate Experience angenehm und partnerschaftlich zu gestalten. New Work bedeutet beispielsweise nicht, dass allgemeine Regeln der Höflichkeit nicht mehr gelten, im Gegenteil: Die Zeit, die sich die Bewerbenden nehmen, ist genauso wertvoll wie die Zeit, die die Beteiligten auf Unternehmensseite aufbringen. Daher sollte man jemanden, der:die zum Vorstellungsgespräch eingeladen ist, nur im äußersten Notfall warten lassen oder den Termin kurzfristig verschieben. Es ist zudem wichtig, dass sich alle, die am Gespräch teilnehmen (!), genügend Zeit nehmen. Noch immer kommt es vor, dass beispielsweise Führungskräfte leider kurz vor dem vereinbarten Ende des Termins gehen müssen (?) aufgrund eines wichtigen Meetings im Anschluss (??). Das sind übrigens dieselben Führungskräfte, die sich wundern, warum der:die gute Kandidat:in nach dem vermeintlich positiven Vorstellungsgespräch doch noch abgesprungen ist…
Zu Beginn des Termins möchte ich übrigens nicht nur etwas über das Unternehmen erfahren (und zwar solche Informationen, die sich nicht auf der Homepage finden), sondern ganz besonders über meine Gesprächspartner:innen. Auch das gehört zu einer transparenteren Gestaltung des Recruiting Prozesses dazu. Schließlich gehe ich davon aus, dass sie sich bereits ausführlich mit meinem Lebenslauf und meiner Person beschäftigt haben und somit einen Wissensvorsprung mir gegenüber haben. Da ist es nur fair, wenn ich in den ersten Minuten erfahre, wer mir gegenüber sitzt. Außer Name und Position interessiert mich vielleicht, welche Ausbildung bzw. fachlichen Hintergrund jemand hat, seit wann er:sie im Unternehmen ist, warum er:sie gern zur Arbeit kommt, und vielleicht ein paar Worte zu Familie oder Hobbies.
Zur Transparenz im Recruiting Prozess und Augenhöhe im Bewerbungsgespräch und damit einer positiven Candidate Experience gehört es auch, keine Machtspielchen oder Fangfragen anzuwenden. Natürlich sollen die Aussagen des:der Kandidat:in auch kritisch hinterfragt werden, und sicherlich tragen ungewöhnliche Fragen zur Auflockerung bei. Wenn ich allerdings ohne Erklärung gefragt werde, welches Küchengerät ich wäre oder unangekündigte Aufgaben bearbeiten muss, ohne im Nachhinein eine Auflösung dazuzubekommen, käme ich mir eher veralbert vor. Insofern: kreative und ungewöhnliche Elemente im Vorstellungsgespräch sind gern gesehen, aber der Zweck und das Vorgehen sollte entweder vorab oder spätestens im Nachhinein erklärt werden. Alle Elemente, bei denen die Bewerbenden nur rätseln können, wozu das dienen soll und welche geheimen Erkenntnisse die Personaler:innen nun in ihre Unterlagen eintragen, dürfen gern in den 90ern zurückbleiben. Je transparenter und authentischer der Eindruck ist, den beide Seiten im Rekrutierungsprozess gewinnen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine lange und erfolgreiche Zusammenarbeit.
Die Stichworte Transparenz und Fairness gelten übrigens auch für das Thema Gehalt. Bei New Work lohnt es sich, auch über New Pay nachzudenken; zumindest sollte aber möglichst früh im Bewerbungsprozess vonseiten des Unternehmens eine ungefähre Spanne angegeben werden, innerhalb derer das spätere Gehalt für die entsprechende Position liegen wird. Selbst wenn die Entlohnung für den Job einigermaßen frei verhandelt werden kann, ist die Stelle meist grob budgetiert. Was viele nicht wissen: wer unerfahrene Kandidat:innen, die ihren Marktwert nicht kennen, absichtlich runterhandelt, hat sieben Jahre Pech und tritt in dieser Zeit regelmäßig barfuß auf Legosteine. Im Ernst: früher oder später werden eure neuen Mitarbeitenden entweder von ihren Kolleg:innen oder von außerhalb erfahren, was ihre Arbeit und ihre Qualifikationen wirklich wert sind. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie sich daraufhin einen neuen Arbeitgeber suchen, der ihnen Wertschätzung auch in Form einer angemessenen Entlohnung entgegenbringt. Bei einem Unternehmen, das tarifvertraglich gebunden ist, ist es übrigens noch weniger sinnvoll, nur von den Bewerbenden die Gehaltsvorstellungen zu erfragen: wer das Tarifgehalt von Anfang an kommuniziert, vermeidet Enttäuschungen und Zeitverlust für alle Beteiligten.
Vermutlich ist euch bereits zu Beginn des Textes aufgefallen, dass ich mich selbst hier konsequent in die Rolle der Bewerberin hineinversetzt habe - ich würde dies allen als ersten Schritt empfehlen, die ihre Candidate Experience verbessern möchten. Testet euer Bewerbermanagementsystem, versucht Antworten auf eurer Karriereseite zu finden, schaut euch die Formulierung von Standardtexten an, die ihr Kandidat:innen schickt. Je authentischer, aufschlussreicher und persönlicher ihr den Recruiting Prozess gestalten könnt, desto lieber werden die dringend gesuchten Fachkräfte zu euch kommen. New Work drückt sich in diesem Fall weniger in bestimmten Methoden und Arbeitsweisen, sondern eher in einer Haltung aus: Bewerbende und Unternehmen versuchen transparent und auf Augenhöhe herauszufinden, wie gut sie zueinanderpassen.
Falls ihr in eurem Unternehmen gern die einzelnen Schritte eures Bewerbungsprozesses auf Optimierungspotenzial für eine gelungenere Candidate Experience untersuchen möchtet, kommen meine Kolleginnen oder ich gern vorbei und bringen unsere spezielle Bewerbenden-Brille mit.