Aktuell erleben wir eine Zäsur in der Debatte um klassische Arbeitszeitmodelle. Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit und Home-Office sorgten in den letzten Monaten dafür, dass trotz plötzlich veränderter Arbeitsumstände überhaupt gearbeitet werden konnte. Dies sorgt mehr und mehr dafür, dass aus “nine-to-five” ein individuelles Gestaltungsprojekt wird. Dienstags früher in den Feierabend, dafür am Donnerstag etwas länger und am Freitag ab Nachmittag nur noch von zu Hause aus. So personalisiert wie heute, waren Arbeitszeiten wohl noch nie.
In den vergangenen Wochen sorgten Meldungen aus Österreich und Spanien für viel Furore: Die 4-Tage-Woche, vorgeschlagen aus Politikerkreisen, um einerseits die Nachwirkungen der Krise abzufedern und andererseits das Wohlbefinden sowie die Zufriedenheit der Arbeitnehmer zu erhöhen. Zwar ist es nicht das erste Mal, dass darüber diskutiert wird, doch sind die Beweggründe dahinter dieses Mal andere. Auch die Erfolgschancen einer Umsetzung scheinen aktuell groß zu sein. In Spanien soll es, wenn es nach Iñigo Errejon, dem Chef der kleinen Linkspartei Más País, geht bereits im Herbst 2021 losgehen.
Mit Blick auf die Wochenarbeitszeit in den letzten Jahrzehnten scheint dieser Vorstoß eine Entwicklung fortzuführen. Denn die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit nahm seit 1825 um mehr als 50% ab. Ein Trend, der nur in den Nachkriegsjahren ins Stocken geriet. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert war eine 7-Tage-Arbeitswoche der Normalfall. 70 bis 80 Arbeitsstunden galten als die Regel. Dies änderte sich, als um 1900 die 6-Tage-Woche mit rund 60 Stunden Einzug hielt. Es folgten der 8-Stunden-Tag im Jahr 1918, der Übergang zur 5-Tage-Woche 1956 und die schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche in diversen Branchen in den 60er- und 70er-Jahren. Für viele ist diese 40-Stunden-Woche jedoch schon heute nicht mehr der Regelfall einer Vollzeitbeschäftigung.
Microsoft hat in Japan mit den dort rund 2.300 Mitarbeitern eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich getestet und den eigenen Aussagen zufolge eine Produktivitätssteigerung von 40% erfahren.
Bei Volkswagen wurde währenddessen bereits ein noch “kompakteres” Modell getestet. Die 28,8-Stunden-Woche, mit deren Einführung 1994 Entlassungen im großen Maße verhindert werden konnten. Könnte dieses auch ein Modell sein, die jetzige Zeit der Corona-Krise zu überstehen?
Viele Unternehmen nutzen aktuell das Mittel der Kurzarbeit, um Arbeitsplätze zu erhalten. Die Arbeitszeit der Mitarbeiter wird dabei reduziert. Der jeweils wegfallende Stundenanteil wird dann durch staatliche Finanzierung noch mit 60% des Nettolohns vergütet. Ein Modell das in Notsituationen funktioniert. Bei einer generellen Umstellung auf die 4-Tage-Woche könnten die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die die deutsche Wirtschaftslandschaft prägen einen solchen Lohnausgleich bei Stundenreduzierung jedoch wohl kaum stemmen.
In zum Teil existenziellen Situationen, wie der aktuellen, scheinen hier allerdings auch die Gewerkschaften und Arbeitnehmer gesprächsbereit. Zumal eine solche Entwicklung auch im Sinne jedes Einzelnen sein könnte. Nicht nur der Erhalt der eigenen Arbeitsstelle ist dabei ein gewichtiger Punkt. Noch in den 1950er-Jahren wurde “Samstags gehört Vati mir” auf Plakate geschrieben. Bedürfnisse nach mehr Zeit für das Privatleben, mehr Möglichkeiten der individuellen Entfaltung außerhalb des Arbeitslebens und mehr “Work-Life-Balance”- sie scheinen jetzt aktueller denn je.
Bleibt die Frage der Umsetzung, welche - wie so häufig bei modernen Formen der Arbeitszeitgestaltung - eine sehr individuelle ist. Ob 4 Tage oder 28, 30, 32 Stunden. Was sich mehr lohnt - kurze Tage oder kurze Wochen - das ist im Einzelfall und je nach Möglichkeit zu entscheiden. Und außerdem: 4 Tage - was heißt das denn dann konkret? Ein langes Wochenende, 2 mal 2 Arbeitstage oder 3+1? Welche Rahmenbedingungen benötigt das gewählte System? Die Möglichkeiten sind vielfältig. Wir begleiten Unternehmen dabei, genau diese Fragen für sich zu beantworten und die Stellschrauben zu verändern, die es benötigt, damit der Umstieg möglichst reibungslos funktioniert.
Was dabei nicht außer Acht gelassen werden sollte: Hier wird das Nützliche mit dem Sinnvollen verbunden. Die Möglichkeiten und Bedürfnisse, sowohl der Unternehmen, als auch der Arbeitnehmer dürfen Berücksichtigung finden. Nicht jedes Unternehmen kann eine Reduzierung der Arbeitszeit für alle Angestellten ermöglichen. Nicht jeder Arbeitnehmer kann sich ohne weiteres erlauben von jetzt auf gleich einen Tag weniger zu arbeiten. Und nicht jedes Unternehmen und jeder Arbeitnehmer wollen dann das Gleiche. Hier können gemeinsame, vernünftige Lösungen gefunden werden, die für alle passen. Und die zukunftsfähig sind. Aus unserer Erfahrung lassen sich viele der Wünsche kombinieren. Oftmals hilft der Impuls von Außen, um über neue Wege auch neu nachzudenken und nicht in alte Verhaltens- oder Denkmuster zurückzufallen.
Wenn Unternehmen in ihrer Existenz bedroht sind, hilft es, wenn alle für sich ein wenig zurückstecken - vielleicht auch länger als es das Mittel der Kurzarbeit gesetzlich zulässt. Durch die verkürzte Arbeitszeit können beispielsweise Arbeitsabläufe reflektiert und auf die wirklich notwendigen Schritte beschränkt werden. Letztendlich kann so auch nach der Krise die Weiterentwicklung daran stattfinden und dann vielleicht in einer Vereinbarung zur Stundenreduzierung münden.
Wenn man eine solche Entwicklung als Chance begreift, werden beide Seiten dem positives abgewinnen können. Unternehmen können sich regenerieren, mit potenziell größeren finanziellen Spielräumen und Arbeitnehmer, mit mehr Balance zwischen Work und Life.
In den Zeiten des Lockdowns haben wir hautnah erlebt, welchen Mehrwert es auch haben kann, Zeit für andere Dinge zu haben. Für all die Vorhaben, die so lange aufgeschoben wurden.
Wer so langsam wieder zurück will, in die “volle” Vollzeit, dem sollte es, je nach Unternehmenslage, ermöglicht werden. Und wer sich mit 4 Tagen Arbeit pro Woche wohlfühlt, kann die gewonnenen Erkenntnisse der Kurzarbeit nutzen oder auch ohne diese Erfahrung die Veränderung und Etablierung im Unternehmen anstoßen.
Veränderungen kommen manchmal schneller als man denkt. Den ersten vergüteten tarifvertraglichen Urlaub gab es 1903. Der Zentralverband deutscher Brauereiarbeiter erkämpfte damals revolutionäres: 3 Tage bezahlt frei im Jahr. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für alle gibt es gar erst seit 1970. Wer hält anhand solcher Entwicklungen noch eine 4-Tage-Woche für unmöglich?
Das Fazit Studie „The Workforce View 2020“ mit 30.000 Befragten verwies darauf, die Qualität der Arbeitszeit statt der Quantität zu erhöhen. Letztendlich geht es um ein System, welches sowohl das Unternehmen, als auch die Arbeitnehmer vertreten können. Im besten Fall ergeben sich für beide Seiten Verbesserungen, wie Effizienzgewinne, eine gesteigerte Zufriedenheit und weniger Krankheitstage.
Und wie würden Sie es für sich gestalten? Wie viele Tage, mit wie vielen Stunden? Sie sehen, es scheint unzählige Kombinationsmöglichkeiten zu geben. Ein weiteres Indiz dafür, dass Recht hat, wer sagt: Die Zeit der klassischen Arbeitszeitmodelle ist vorbei.